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Leserbriefe

Mittwoch, 30.10.2002



Marco Abrarov: Wo sind die Reformbewegungen im Islam? schrieb:


Sehr geehrte Damen und Herren,

hiermit erlaube ich mir, Ihnen einen bislang unveröffentlichten Artikel von mir zuzusenden, für den Sie vielleicht Verwendung finden.

Ich bin 30 Jahre alt und war in St.Petersburg/Russland als Journalist tätig. Ich bin kein Russe, sondern Tatar.


Mit besten Grüssen

Marco Abrarov






Islam und “westliche” Werte

Nach den verheerenden Anschlägen von New York und Washington haben die USA und ihre Verbündeten den “Kampf gegen den Terror” ausgerufen. Vielfach, vor allem kurz nach den Anschlägen, entstand der Eindruck, auf deren anderen, “bösen” Seite stände der Islam: in Madrid wurde eine Moschee mit Farbbeuteln beworfen; islamische Schulen in England liessen aus Angst vor gewaltsamen Übergriffen den Unterricht ausfallen; der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime in Deutschland und andere Repräsentanten islamischer Verbände erhielten Drohbriefe. Menschen erlebten, dass ihnen in der Straßenbahn und am Arbeitsplatz Misstrauen und Ablehnung entgegenschlugen, weil sie irgendwie arabisch aussahen, also Muslime sein mussten.
Schlägt eine latente Angst vor dem Islam in offene Feindschaft um? Befinden wir uns bereits im "clash of civilizations", jenem globalen Krieg der Kulturen, den der amerikanische Philosoph Samuel Huntington vor ein paar Jahren als die entscheidende Konfliktkonstellation des 21. Jahrhunderts beschrieben hat?
Spitzenpolitiker in Deutschland und den USA haben betont, dass der Kampf dem Terror gelte, nicht der Religion oder der Kultur des Islam. Doch auch in solche Dementis schleichen sich immer wieder semantische Unschärfen ein: wenn die Rede von der "zivilisierten Welt" ist, hat sie ihren Sitz primär in Nordamerika und Westeuropa?
Man kann in der Tat nicht oft genug betonen, dass die in allen Fernsehkanälen ausgestrahlten amerikafeindlichen Freudentänze einer kopftuchtragenden und von jubelnden Kindern umringten Frau weder für das Volk der Palästinenser noch gar für eine Milliarde Muslime repräsentativ sind. Der Hinweis auf die vielen gemäßigten Muslime bleibt jedoch zweideutig, wenn zugleich der Eindruck vermittelt wird, liberale Muslime seien irgendwie "verwestlicht" und damit weniger authentisch als anti-westlich eingestellte, radikale islamische Fundamentalisten. Wer “gemäßigte” Muslime zur Kenntnis nimmt, aber kulturell und religiös an den Rand stellt, macht sie zu halbherzigen Muslimen und stärkt das Vorurteil, der "eigentliche Islam" sei von Militanz, Autoritarismus und Intoleranz gekennzeichnet. Und das ist gänzlich falsch. Denn auch der Islam spricht von Werten, die gemeinhin als “westliche” bezeichnet werden, z.B. Menschenrechte. Dabei muss auch beachtet werden, dass es eigentlich einen einheitlichen Islam gar nicht gibt. Muslimische Gemeinschaften können sich je nach regionaler Tradition stark voneinander unterscheiden. So passt sich die Ausprägung des Islam in Indonesien, Senegal oder Ägypten den sozialen und kulturellen Gegebenheiten der jeweiligen Gesellschaften an und steht mit ihnen in Wechselwirkung. Davon hängt beispielsweise ab, welcher der vier vorherrschenden Rechtsschulen sich eine Gemeinschaft verbunden fühlt, wie stark regionale kulturelle Traditionen ins Gemeindeleben integriert werden oder welchen Status Männer und Frauen innerhalb der Gemeinschaft und der Familie einnehmen. Die Vorstellungen darüber, wie ein islamischer Staat auszusehen habe, sind selbst innerhalb der islamischen und der islamistischen Bewegungen nicht einheitlich definiert. Die Internationale Islamkonferenz hat sich wiederholt mit der Frage auseinander gesetzt, wie ein islamischer Staat auszusehen habe. Die Diskussionen um Form und Wesen eines solchen Staates mündeten 1983 in den Entwurf einer Internationalen Islamischen Modellverfassung, der von namhaften Juristen und Theologen aus verschiedenen Ländern ausgearbeitet wurde. In diesem Entwurf sind auf der Basis des islamischen Rechts Parlamente, Gewaltenteilung und Parteienpluralismus vorgesehen. Natürlich darf nicht übersehen werden, dass die liberalen Denker in ihren jeweiligen Ländern immer noch eine Minderheit bilden und zwischen die Fronten der fundamentalistisch-islamistischen Strömungen einerseits und der zumeist diktatorischen Staatsführungen ins islamischen Ländern andererseits geraten. Darüber hinaus existiert eine breite Strömung mit pragmatischem Islamverständnis, innerhalb der das Ringen um Pluralismus und Menschenrechte noch nicht abgeschlossen ist.
Die Rolle der Menschenrechte in islamischen Gesellschaften wird in zwei zentralen Dokumenten erkennbar: in der "Allgemeinen Islamischen Erklärung der Menschenrechte" von 1981 sowie in der "Kairoer Erklärung über Menschenrechte im Islam" aus dem Jahr 1990. Konsens beider Erklärungen ist, dass Menschenrechte existieren, das normative Verständnis darüber und die Frage der institutionellen Ausgestaltung bleiben jedoch strittig. Die Menschenrechtserklärungen dienen dazu, die Menschenrechte auf einer metarechtlichen Ebene zu verwurzeln und sie damit der menschlichen Verfügungsgewalt zu entziehen. In den genannten Erklärungen wird eindeutig der Islam als Grundlage und Ursprung der Menschenrechte bezeichnet.
Sowohl in der Allgemeinen Islamischen Erklärung der Menschenrechte als auch in der Kairoer Erklärung über Menschenrechte im Islam sind große Gemeinsamkeiten mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 festzustellen. So sehen alle drei Dokumente die Würde des Menschen, das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit sowie die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz und in der Gesellschaft unabhängig von Herkunft, Religion, Sprache, Geschlecht, Hautfarbe oder politischer Zugehörigkeit vor. Ebenso sind in ihnen das Verbot der Folter, das Recht auf Asyl, das Recht auf freie Religionswahl und das Recht auf Freizügigkeit verankert, und wirft man einen Blick in die Geschichtsbücher liest man immer wieder von der vorbildlichen Toleranz von Muslimen gegenüber anderen Kulturen und Religionen, selbst im Russland der Tatarenherrschaft oder in Spanien bei den Mauren. Die Kreuzzüge, mit denen man über hochzivilisierte Kulturen einfiel und sie in Blut ertränkte, wurden von Christen mit dem Ruf “Gott will es!” begonnen. Heute gilt der Islam als die “militante Religion”, wofür oft das Wort “Dschihad” herhalten muss. Doch aus dem Koran geht hervor: kein Krieg ist heilig. Auch dann nicht, wenn er als der islamisch erlaubte Verteidigungskrieg geführt wird. Nirgends ist im Koran deswegen vom heiligen Krieg die Rede. Das Wort Krieg in seinem engeren Sinne wird im Koran mit "Harb" bezeichnet. Der Dschihad, der jeder Muslima und jedem Muslim zur Pflicht gemacht wird, ist der vollständige permanente gesellschaftliche Einsatz des Einzelnen für das Gute in allen Bereichen der Gesellschaft, der Kampf für das Bewahren der gesamten Menschheit vor dem Bösen. Selbst in diesem Sinne ist der Dschihad nicht heilig, denn kein Mittel darf nach islamischem Verständnis geheiligt werden - nur Gott ist heilig.
Die Allgemeine Islamische Menschenrechtserklärung von 1981 ist vom Islamrat in Europa verabschiedet worden, der als konservativ gilt und im Wesentlichen von Saudi-Arabien getragen wird. Die Erklärung stellt einen Minimalkonsens innerhalb der islamischen Länder dar, bleibt jedoch hinter den Menschenrechtsstandards der Vereinten Nationen zurück und ist deshalb von liberalen muslimischen Denkern als unzureichend kritisiert worden. Die Kairoer Erklärung ist enger formuliert als das Dokument des Islamrates und führt die Menschenrechte direkt auf den Koran und das Leben des Propheten Mohammed zurück. Es gilt die Regel, dass alle Rechte im Rahmen der islamischen Rechtsprechung (Scharia) gewährt werden, für deren Auslegung Gelehrte zuständig sind. Daher kann die Auslegung je nach Standpunkt des Rechtsgelehrten variieren und von fundamentalistischer über konservative bis hin zu moderater und liberaler Rechtsprechung reichen. Zu Konflikten mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte kommt es vor allem bei den so genannten Körperstrafen (z.B. Auspeitschen, Steinigung) sowie bei der Stellung der Frau in der Gesellschaft.
Die beiden islamischen Menschenrechtserklärungen weisen trotz der Gemeinsamkeiten mit der UNO-Erklärung von 1948 Defizite auf, weil sie weder Körperstrafen ausdrücklich verbieten noch die Religionsfreiheit uneingeschränkt gewähren. Vielmehr lassen sie einen Freiraum bei der Interpretation, der zugunsten der Religionsfreiheit, einer gleichberechtigten Stellung der Frau in der Gesellschaft oder argumentativ zur Abschaffung der Körperstrafen genutzt werden kann - allerdings kann bei entsprechend konservativer Auslegung auch das Gegenteil in den Text interpretiert werden.
Ob der Islam in der Praxis mit Demokratie und Menschenrechten vereinbar ist, zeigt ein Blick auf jene Staaten, die sich in ihrem Selbstverständnis oder ihrem Rechtswesen ausdrücklich auf islamische Werte beziehen. Hier bietet sich allerdings leider ein ernüchterndes Bild, denn in diesen Staaten werden die Menschenrechte vielfach missachtet. Körperstrafen oder Bekleidungsvorschriften für Frauen werden von Fundamentalisten als Bekenntnis zum Islam betrachtet und nötigenfalls mit Gewalt durchgesetzt. Die Gewaltanwendung stößt jedoch in der islamischen Welt auf Kritik - außer in wenigen fundamentalistischen Bewegungen wie etwa den saudi-arabischen Wahabiten.
Nicht alle Staaten, die theoretisch Körperstrafen zulassen, wenden diese auch tatsächlich an, tatsächlich werden sie vor allem in Saudi-Arabien, Sudan, Mauretanien und Pakistan verhängt. Bemerkenswert ist demgegenüber eine Entscheidung des zentralen Scharia-Gerichts Pakistans, das Körperstrafen als unislamisch bezeichnete. Dazu passt, dass einige moderate Richtungen die Körperstrafen als äußerste theoretische Grenze der Rechtsprechung und eben nicht als Regelstrafe verstehen, so dass Körperstrafen gar nicht verhängt werden. Einige muslimische Reformtheologen sehen durchaus die Chance, mit Menschenrechtsstandards bestimmte Traditionen zu überwinden und den ursprünglich humanen Charakter des Islam wieder herauszustellen. Noch - insbesondere im arabischen Raum - ist ihr politischer Einfluss vergleichsweise gering, doch Tatarstan geht hier mit seiner liberalen Bewegung des Dschadidismus* beispielgebend voran. Übrigens gilt dieses nördlichste islamische Land als das am wenigsten korrupte der ehemaligen Sowjetunion und wird von amnesty international seltener erwähnt als die USA.
Man sollte darüber hinaus beachten, dass vielfach Menschenrechtsverletzungen in Staaten mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung wie bspw. in Indonesien oder in der Türkei von der säkularen Staatsgewalt, nicht von islamischen Institutionen verübt werden. Auch macht niemand das Christentum für den nordirischen Konflikt verantwortlich, entsprechend müssen auch andere Religionen differenziert betrachtet und von den Taten jener Extremisten getrennt werden, die vorgeben, im Namen ihrer Religion zu handeln. Dabei kann es nicht darum gehen, bestehende Unterschiede harmonisierend zu überspielen. Vielmehr müssen vorhandene Widersprüche analysiert und dann politisch gelöst werden. Ziel muss es sein, die Diktatoren und nicht ihre Religion für die von ihnen begangenen Menschenrechtsverletzungen verantwortlich zu machen.
Die islamische Theorie leugnet die bestehenden Konzepte von Pluralismus und Menschenrechten keineswegs. Doch ähnlich wie in anderen Ländern zählen Willensbekundungen wenig, wenn es an deren politischen Umsetzung mangelt. Ein Staat muss sich immer daran messen lassen, wie er die Menschenrechte durchsetzt und schützt, und hier gibt es noch viel zu tun - sowohl in islamischen wie in nichtislamischen Ländern.

Marco Abrarov


* eine Reformbewegung des Islam, die sich im 19.Jahrhundert aus dem engen Zusammenleben von muslimischen Tataren und orthodoxen Christen in Russland entwickelte. Die Bezeichnung “Dschadidismus” bedeutet "Wandel" und meint eine Auseinandersetzung des Islam mit den Ideen der Aufklärung und zukunftsorientiertem Denken.