Leserbriefe |
Mittwoch, 21.07.2004 | Drucken |
Leserbriefe
Gideon Levy, 18.7.04. Ha’aretz: Wenn es umgekehrt wäre ... schrieb:
Was würde geschehen, wenn ein palästinensischer Terrorist am Eingang einer Wohnung in Israel eine Bombe explodieren ließe und so den Tod eines alten Mannes im Rollstuhl verursachen würde, der später unter den Trümmern des Hauses gefunden wird. Das Land wäre zu tiefst geschockt. Jeder würde über die scheußliche Grausamkeit des Aktes reden und über den, der ihn ausgeführt hat. Der Schock würde sogar noch größer sein, wenn bekannt wird, dass die Frau des Toten noch versucht hat, den Terroristen davon abzubringen, das Haus in die Luft zu sprengen, da sie ihm sagte, es seien noch Menschen drin. Aber es war umsonst. Die Boulevardpresse würde mit der üblichen, sofort ins Auge fallenden Schlagzeile kommen: „Mit Rollstuhl lebendig begraben“ – die Terroristen würde man als „wilde Tiere“ brandmarken.
Am letzten Montag haben Israels Militärbulldozer in Khan Yunis im Gazastreifen das Haus von Ibrahim Halfalla, einem 75 jährigen behinderten Mann und Vater von sieben Kindern, niedergewalzt und ihn dabei lebendig begraben. Umm Basel, seine Frau, sagt, sie versuchte den Fahrer der schweren Maschine noch durch Schreien anzuhalten, aber er beachtete sie gar nicht. Das Militär bezeichnete den Akt als „ein Versehen, das nicht passieren sollte“. Über den Vorfall wurde in der israelischen Presse nur beiläufig berichtet. In der größten Zeitung Israels, in Yedioth Ahranot, kam davon überhaupt nichts. Die Schauergeschichte aus Frankreich – wo eine Frau einer antisemitischen Attacke zum Opfer gefallen war, was sich später als Fiktion herausstellte – versprach, größere Aufregung unter den Leuten zu verursachen . Dort – so schien es – war es ein Angriff auf unser Volk. Aber wenn Bulldozer der IDF einen behinderten Palästinenser zu Tode bringen? Das ist doch keine Geschichte. Genau wie das Umbringen unter den Trümmern ihres Hauses von Noha Makadama, einer Frau, die im neunten Monat schwanger war . Es geschah vor den Augen ihres Mannes und der Kinder im El-Boureij-Flüchtlingslager nur ein paar Monate früher.
Und was würde geschehen, wenn ein Palästinenser einen israelischen Universitätsdozenten und seinen Sohn vor den Augen der Frau und dem jüngsten Sohn erschießen würde? Das geschah vor 10 Tagen im Fall von Dr. Salem Khaled in Nablus. Er, ein Mann des Friedens, rief den Soldaten noch vom Fenster aus zu, dass er die Haustür nicht öffnen könnte, weil sie blockiert sei, und er nicht herauskommen könne. Die Soldaten schossen ihn tot und danach auch den 16jährigen Sohn vor den Augen seiner Mutter und dem 11jährigen Bruder. Man kann sich gut vorstellen, wie wir auf diese Geschichte reagiert hätten, wenn das Opfer zu uns gehört hätte.
Aber wenn wir darin verwickelt sind, und die Opfer Palästinenser sind, schauen wir lieber weg, wollen nichts wissen, haben kein Interesse dran, um ja nicht geschockt zu werden. Die palästinensischen Opfer – und ihre Zahl ist, wie jeder weiß, viel größer als unsere – verdienen nicht einmal Zeitungsberichte, auch nicht wenn die Reihe der Ereignisse besonders brutal ist, wie die oben genannten Beispiele. Das ist keine intellektuelle Übung, sondern ein Versuch, zu demonstrieren, dass Information zurückgehalten wird und dass dies etwas die Doppelmoral und Heuchelei zu tun hat. Die Gleichgültigkeit gegenüber den beiden Ereignissen vor kurzem bewies wieder, dass es in unseren Augen nur ein Opfer gibt - alle anderen werden nie als Opfer betrachtet.
Wenn ein europäischer Minister erklärt hätte: „Ich mag nicht, dass mich die langnasigen Juden im Restaurant bedienen“, dann wäre ganz Europa in Aufruhr geraten und dieser Kommentar wäre die letzte Bemerkung des Ministers als Minister gewesen. Vor drei Jahren hat unser früherer Arbeitsminister Shlomo Benizri von Shas festgestellt: „Ich kann nicht verstehen, warum mich immer schlitzäugige Typen im Restaurant bedienen.“ Nichts geschah daraufhin. Uns ist es erlaubt, Rassisten zu sein. Und wenn eine europäische Regierung verkündet hätte, dass Juden nicht in eine christliche Schule gehen dürften? Die jüdische Welt hätte sich zum Protest erhoben. Aber wenn unser Erziehungsministerium verkündet, dass es Arabern nicht erlaubt sei, jüdische Schulen in Haifa zu besuchen, wird dies nicht als Rassismus angesehen. Nur in Israel konnte dies nicht mit Rassismus bezeichnet werden. Das Erbe Golda Meirs – sie war es, die sagte, nachdem, was die Nazis uns antaten, können wir alles tun, was wir wollen – erlebt jetzt eine späte und unselige Wiederkehr.
Was würde geschehen, wenn ein bestimmtes Land ein Gesetz herausgibt, das Mitgliedern einer besonderen Volksgruppe verbietet, Bürger zu werden - egal unter welchen Umständen – einschließlich gemischter Paare, die heiraten und Familien gründen. Es gibt nirgendwo ein Land, das heutzutage solch ein Gesetz herausgibt. Außer Israel. Wenn das Regierungskabinett heute die Gültigkeit des neuen Gesetzes über die Staatsbürgerschaft erweitert, dann wird es Palästinensern nicht mehr möglich sein, eingebürgert zu werden, selbst wenn sie mit einer Israelin verheiratet sind. Wir haben das Recht. Und wenn man in den USA illegale israelische Immigranten mitten in der Nacht wie Tiere jagen würde, so wie es die Einwanderungspolizei hier macht, hätten wir dann ein besseres Verständnis für die Ungerechtigkeit, die wir gegenüber einer Gemeinschaft begehen, die nichts anderes will, als hier zu arbeiten?
Was würden wir sagen, wenn die Eltern israelischer Emigranten von ihren Kindern getrennt und deportiert werden, weil sie keinen Zugang zur Staatsbürgerschaft haben – egal unter welchen Umständen. Und wie würden wir ein Land bezeichnen, das seine Besucher über ihre politische Meinung verhört, sobald sie mit dem Flugzeug am Flughafen angekommen sind ... und die Sicherheitskräfte der geäußerten Meinung misstrauisch begegnen. Was würde geschehen, wenn Antisemiten in Frankreich das Trinkwasser eines jüdischen Stadtteils vergiften würden? Letzte Woche vergifteten Siedler eine Quelle in Atawana in den südlichen Hebroner Bergen – die Polizei untersucht es noch.
Und noch haben wir nichts über ein Land gesagt, das ein anderes Volk einsperrt oder über ein Regime, das einigen seiner Bürger den Zugang zur medizinischen Versorgung versagt - je nach seiner nationalen Identität; oder über Straßen, die nur von Angehörigen der einen Nation benützt werden dürfen oder über einen Flughafen, der für das andere Volk geschlossen ist.
All dies geschieht in Israel und zieht unter uns die moralische Grundlage weg, die es möglich macht, uns über Rassismus und Antisemitismus im Ausland zu beklagen, selbst dann, wenn er tatsächlich ausbrechen würde.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs)
|
|
Hintergrund/Debatte
𝐌𝐞𝐢𝐧 𝐀𝐮𝐬𝐭𝐫𝐢𝐭𝐭 𝐚𝐮𝐬 𝐝𝐞𝐫 𝐂𝐃𝐔: 𝐄𝐢𝐧𝐞 𝐄𝐧𝐭𝐬𝐜𝐡𝐞𝐢𝐝𝐮𝐧𝐠 𝐝𝐞𝐬 𝐆𝐞𝐰𝐢𝐬𝐬𝐞𝐧𝐬 - Aladdin Beiersdorf-El Schallah, Stv. Vorsitzender ZMD-NRW, Stadtverordneter Sankt Augustin und ehemlaige dortige Fraktionsvorsitzender erklärt detailliert seine Beweggründe ...mehr
Extreme bis extremistische Einstellungen in Deutschland auf dem Vormarsch mit Spiegelung in der Politik und Medien ...mehr
Langes KNA-Interview: Der neue Vorsitzende des Zentralrats der Muslime über sein Amt ...mehr
Bochum ehrt Ahmed Aweimer zum 70. Geburtstag ...mehr
Aiman Mazyek kommentiert das Verbot der Imam Ali Moschee: "Blaue Moschee - Islamisches Zentrum in Hamburg ...mehr
Der Koran – 1400 Jahre, aktuell und mitten im Leben
Marwa El-Sherbini: 1977 bis 2009
|