Leserbriefe |
Montag, 01.08.2005 | Drucken |
Leserbriefe
M. Belal El-Mogaddedi schrieb:
Das Schweigen der Lämmer - Angesichts der Anschläge in Ägypten auf Muslime
Das Schweigen der Lämmer!
Die Terroranschläge von London am 07.07.2005, und die versuchten Terroranschläge vierzehn Tage später, waren noch frisch in der kollektiven Wahrnehmung der Öffentlichkeit, als die Menschen im ägyptischen Sharm-el-Sheikh Opfer eines terroristischen Wahnsinns wurden.
So einhellig und richtig die Verurteilung dieser Anschläge war, so erstaunlich ist doch der Umstand, dass die Muslime anlässlich der Anschläge von Sharm-el-Sheikh, von den Distanzierungspopulisten Schily, Beckstein, Huber und Lehmann nicht zu der sonst üblichen klaren Abgrenzung vom Terrorismus aufgerufen worden sind.
Ihr Schweigen ist geradezu ohrenbetäubend und erschreckend zugleich.
Warum sehen sich Muslime in Deutschland Distanzierungsrufen ausgesetzt, wenn der Terror in Europa seine menschenverachtende Fratze zeigt, während bei Anschlägen in muslimischen Ländern mit mehrheitlich oder ausschließlich muslimischen Opfern, diese Distanzierungsrufe ausbleiben?
Nachdem seit dem 11.09. 2001 die Distanzierungsrufer in unsäglicher Weise den Muslimen in Europa permanent stillschweigende Sympathie für den Terrorismus unterstellt haben, sie die fast gebetsmühlenartigen, fortwährenden klaren Aussagen der muslimischen Verbände und Einzelpersonen ignoriert haben –eine Wahrnehmungsresistenz, die ihresgleichen sucht- kommt jetzt der Vorwurf, das eine Distanzierung vom Terrorismus nicht reicht.
Friedensgebete, Mahnwachen, Kundgebungen, deutliche Freitagsansprachen und Lichterketten werden die Sicherheit des Landes in dem wir leben nicht erhöhen und den Terrorismus nicht entscheidend eindämmen. All das hat es bereits gegeben, und das ist gut und richtig, dennoch wird damit das Problem, das wir Muslime und Nicht-Muslime gleichermaßen mit dem Terrorismus haben, nicht gelöst, solange Muslime nicht als integraler Bestandteil dieses Landes verstanden und anerkannt werden.
Diejenigen, die aus Anlass der Terrorangriffe in Sharm-el-Sheikh keinen Distanzierungsappell an die Muslime gerichtet haben, demonstrieren mit ihrem Schweigen, dass sie die Muslime in Deutschland immer noch als einen Fremdkörper verstehen.
Offensichtlich erfassen sie terroristische Angriffe in muslimischen Ländern mit mehrheitlich oder ausschließlich muslimischen Opfern als innermuslimische und damit wenig Beachtung verdienende Auseinandersetzungen.
Ist ein Terroranschlag, dem nur Muslime zum Opfer fallen, ein vernachlässigungswürdigerer Vorgang als ein Anschlag, dem auch Nicht-Muslime zum Opfer fallen?
Ist muslimisches Blut, das in Bagdad aufgrund terroristischer Angriffe tagtäglich vergossen wird, weniger wert, als das Blut, das in den Straßen von London vergossen wurde?
Warum gibt es keine öffentlichkeitswirksamen an Muslime gerichtete Aufrufe zur so genannten „glasklaren Distanzierung“, wenn muslimische Länder den mörderischen Attacken zum Opfer fallen?
Es ist schon eine Ironie des Schicksals, dass das erste Terroropfer, das in London beerdigt wurde, eine aus Pakistan stammende britische Muslima war!
Wenn Muslimen in Deutschland unterstellt wird, dem - weiterhin undefinierten idealtypischen ! – Distanzierungsschema der populistischen Ordnungsrufer nicht entsprochen zu haben, dann ist dies der unzweifelhafte Ausdruck einer persönlichen Betroffenheit und Verwundung, die auch Muslime nach einem Terrorangriff heimsucht, denn auch sie sind immer und jedes Mal eindeutig Opfer von Terrorismus.
Die Anschläge in London haben zum wiederholten Mal gezeigt, dass Terroristen zwischen Nicht-Muslimen und Muslimen nicht trennen.
Warum sollen sich Muslime, die sich zu Recht keiner Schuld bewusst sind, im Vergleich zu Nichtmuslimen explizit von terroristischen Gewaltakten distanzieren, wenn sie selbst fortwährend Opfer dieser Terroristen sind?
Gibt es eventuell Opfer, die nur aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit mit dem Verdacht der Terrorsympathie diffamiert werden dürfen und deshalb mit dem unausgesprochenen Gedanken „selber Schuld“ abgeschrieben werden dürfen?
Gibt es etwa Opfer unterschiedlicher Klassen?
Ein Muslim, der durch die Hand eines Kriminellen, der sich in seinem Angriff auf Menschen auf den Islam beruft, zu Tode kommt oder verletzt wird, hat sein Anrecht auf Achtung seines Verlustes und seiner Person, und den Respekt vor seiner persönlichen Integrität nicht verwirkt, nur weil Opfer und Täter von außen betrachtet der selben Religion folgen.
Der Polizeichef von „Scotland Yard“ hat richtigerweise darauf hingewiesen, dass die Ermittlungen gegen die Attentäter vom 07.07.2005 eine kriminelle Ermittlung darstellen und nicht eine Ermittlung gegen eine ethnische oder religiöse gesellschaftliche Gruppe.
Es ist bedauerlich, dass in aller Öffentlichkeit auf diesen Charakter der Ermittlung hingewiesen werden muss, aber in einem politischen Umfeld, dass Moscheen pauschal zu Brutstätten des Terrors verunglimpft, Kopftücher zu politischen Symbolen degradiert und die regelmäßige Teilnahme an Freitagsgebeten verdächtig erscheinen lässt, ist es ein bemerkenswerter und wichtiger Beitrag zur Versachlichung der gesellschaftspolitischen Diskussion.
Ein Muslim in Europa zu sein, stellt keine kriminelle Handlung dar!
Terrorismus ist der gemeinsame Feind der Nicht-Muslime und der Muslime, in diesem Land und weltweit. Terrorismus hat keine Religion!
Der Appell an die Muslime in Deutschland „enger“ mit den Verfassungsbehörden zu kooperieren, ist objektiv richtig.
Dem ungeachtet ist er aber auch Ausdruck einer fundamentalen Fehleinschätzung, denn dieser Appell drückt schließlich aus, das Muslime dies durchaus getan haben („enger“ ist das Komparativ vom Positiv „eng“).
Terroristen arbeiten nämlich nicht in einem der allgemeinen Öffentlichkeit zugänglichen, unversperrten Raum. Sie verbreiten ihre kranke Ideologie auch nicht von Moscheekanzeln, dies entspricht nicht ihrer perfiden Strategie, und sie nutzen auch keine öffentlichen Medien für die Verbreitung ihrer kriminellen Anschauungen.
In einem Land, das schlimmste Terrorerfahrungen mit der RAF gemacht hat, sollte die Feststellung, dass der Terrorist im Verborgenen arbeitet, nachvollziehbar sein.
Aus den o. g. Gründen ist es für Muslime in diesem Land wie für die verantwortlichen Organe der öffentlichen Sicherheit gleichermaßen schwierig, kriminelle Extremisten zu identifizieren oder im Sinne einer nicht hinnehmbaren und hoffentlich auch nicht gewünschten Privatjustiz, sie zu verfolgen und zur Strecke zu bringen.
Dem Terrorismus kann nur dann entschieden entgegengewirkt werden, wenn Muslime in diesem Land im offenkundigen Sprachgebrauch nicht zu Informationsbeschaffern und Verdächtigen disqualifiziert und degradiert werden.
Der Kampf gegen Terrorismus kann nur dann erfolgreich sein, wenn Muslime von der nicht-muslimischen Mehrheitsgesellschaft, und insbesondere der Politik, als gleichwertige Bürger und Partner akzeptiert werden. Deutschland stellt für die in Deutschland lebenden Muslime kein Ausland dar, Deutschland ist für Muslime Heimat geworden, einer Heimat, der sie sich in Verantwortung verpflichtet fühlen. Die Verknüpfung der Muslime mit Deutschland einzig in der Form eines „Ruheraumes“ zu sehen ist arglistig.
Muslime sind nicht Geiseln und Gefangene der Terroristen, einer Bande global operierender Krimineller. Muslime sind vielmehr Opfer von Ignoranz (Dschahiliya), muslimischer wie auch nicht-muslimischer Kenntnislosigkeit der Religion.
Die Clique der muslimischen wie auch nicht-muslimischen vor Arroganz strotzenden so genannten Fachkundigen in Sachen Islam, entsprechen sich in ihrer einfältigen Betrachtung weltpolitischer Zusammenhänge, religiöser Inhalte, der Konsequenzen, die sie in ihrer Oberflächlichkeit daraus ableiten und den dümmlichen Aussagen, die sie einer verunsicherten Öffentlichkeit tagtäglich entgegenschleudern.
Sie erhalten eine mediale Beachtung und damit eine Öffentlichkeit, die jeglicher sachlichen Diskussion, die Grundlage für ein gemeinschaftliches Leben ist, den Boden entzieht.
Muslime sind Geiseln und Gefangene dieses Zustandes und eines feindseligen Sprachgebrauches, der „islamisch“, „muslimisch“, „islamistisch“ und „terroristisch“ in unverantwortlicher und unsäglicher Weise synonymisiert.
Aus dieser ihnen auferlegten gefährlichen Klammer müssen Muslime ausbrechen!
Muslime in Deutschland haben sich nicht zu Komplizen dieser Ignoranz machen lassen, sie dürfen es auch nicht, weil Ignoranz ihren Glaubensgrundsätzen widerspricht. Sie müssen dieser Koalition der Dummheit und Verblendung in den eigenen Reihen und außerhalb ihrer Reihen mit größter Entschiedenheit begegnen.
Dieser Prozess wird Muslimen und Nicht-Muslimen sehr viel Geduld abnötigen, und er muss als ein gesamtgesellschaftlicher Prozess verstanden werden, in dem alle ihrer Verantwortung für dieses Land gerecht werden.
Dazu ist es freilich notwendig, dass den Muslimen in Deutschland die Begegnung auf Augenhöhe auf allen sozialen Ebenen ehrlich zugestanden wird, so dass sich Muslime produktiv und selbstverständlich mit einer spezifisch muslimischen Sichtweise in die Gestaltung der Zukunft dieses Landes einbringen können und dürfen, so dass religiöse Orientierung nicht zum Verdachtsmoment gerät.
Der britische Premierminister hat darauf verwiesen, dass es nun an der Zeit ist, sich dem Terrorismus in allen Bereichen anzunehmen, "denn die Wurzeln des Problems reichen sehr tief". Die tiefgründige Auseinandersetzung setzt die Bereitschaft voraus, die Ebene des oberflächlichen und gefährlichen Unsinns zu verlassen, da sonst die Auseinandersetzung hintergründig, doppelbödig und unehrlich bleibt.
Die Distanzierungsappelle an die Muslime anlässlich der Anschläge von Sharm-el-Sheikh sind ausgeblieben, und dennoch ist dieser Umstand kein Anlass zur Freude.
Die augenscheinliche Aufteilung in Opfer und Täter udn damit einhergehende und Gleichsetzung in Nicht-Muslime und Muslime, wird einer gesamtgesellschaftlichen Verantwortung für den Frieden und den Kampf gegen den Terrorismus in Deutschland und der weltweiten Realität, in der wir leben, nicht gerecht. Die Unkultur der Distanzierungspolemik muss in ihrer infamen Einseitigkeit ein sofortiges Ende finden.
Der Kampf gegen Terrorismus ist genauso wenig qualifizierbar wie der Kampf gegen Rassismus oder andere menschenverachtende Ideologien.
Aus diesem Grund wirkt das Schweigen der Distanzierungspolitiker angesichts der Anschläge in Ägypten auf Muslime in Deutschland beklemmend und entlarvend.
M. Belal El-Mogaddedi
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Hintergrund/Debatte
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