Damaskus/Bonn (KNA) Die Geschwindigkeit, mit der die HTS-Miliz und deren Verbündete ihren Eroberungszug durch Syrien bis in die Hauptstadt Damaskus vortrugen, verblüffte selbst gutinformierte politische Analysten und langgediente Korrespondenten. Die gegenwärtige Lage in dem Land ist ungewiss, erst recht die Zukunft. Fest steht nur: Die 54-jährige Diktatur des Assad-Clans ist Vergangenheit. Staatspräsident Baschar al-Assad ist geflohen, laut russischen Agenturen nach Moskau.
Mit einem bizarren Personenkult und totaler Kontrolle durch die Geheimdienste wirkte das Syrien der Assads wie eine nahöstliche Ausgabe Nordkoreas. Eine Besonderheit war indes, dass der Clan zur kleinen Minderheit der Alawiten im mehrheitlich sunnitischen Syrien zählte. Nur etwa zehn Prozent der Bevölkerung gehören der Sekte an, die zwar geistige Verbindungen zum schiitischen Islam, aber mit der islamischen Lehre wenig gemein hat.Ihre Herkunft wurde für die Assads zum Sprungbrett: Einst gefördert durch die Mandatsmacht Frankreich nach dem Prinzip des "Teile und Herrsche", gelangten Alawiten zu Einfluss im syrischen Militär. Und die Armee wiederum wurde zum Rekrutierungsfeld für die sozialistische "Partei der arabischen Wiedergeburt" (Baath). Aus diesen Strukturen stieg Baschars Vater Hafiz al-Assad zum Diktator auf. Der ehrgeizige, 1930 geborene Assad brachte es zum Kampfpiloten und machte in der Baath Karriere. 1970 putschte er sich an die Macht.
Mithilfe von Militär und Geheimdiensten baute der "Löwe von Damaskus" als Staatspräsident den Einparteienstaat zu einer der härtesten Diktaturen der Welt aus. Zum ersten Mal seit der Unabhängigkeit erlebte Syrien zwar politische Stabilität, doch der Preis dafür war furchtbar. Zigtausend Oppositionelle verschwanden in den Gefängnissen oder wurden hingerichtet. Am schlimmsten traf es die Opposition der sunnitischen Muslimbrüder.Das brutale Vorgehen gegen den Islamismus sicherte der alawitischen Herrschaft die Unterstützung der meisten Christen im Land. Bis zuletzt konnte sich der Assad-Clan auf die ängstliche Loyalität der syrischen Kirchen gegen die angebliche islamischen Fanatiker verlassen - derzeit versprechen ihnen die siegreichen Rebellen, dass sie keine Rache üben werden.
Syrien blieb unter Hafiz al-Assad ein verschlossenes und armes Land. Reformen kamen nicht voran, nationale Unternehmen gerieten zur Beute von Kleptokraten, meist Verwandte Assads oder verschwägerter Clans. Die ölabhängige Wirtschaft konnte mit der hohen Geburtenrate nicht Schritt halten.Dabei bewies Assad zweifellos außenpolitisches Geschick, wenn auch nicht als Friedensstifter, sondern als erbitterter Feind Israels. Syriens Rang als Regionalmacht sicherte er durch die engen Bündnisse mit der Sowjetunion, später Russland sowie dem Iran ab. Der Libanon wurde während des dortigen Bürgerkriegs de facto syrisches Protektorat. Dort protegierte der Staatschef palästinensische Terrorkommandos und die Hisbollah-Miliz.
Es blieb Baschar al-Assad überlassen, das uralte Kulturland Syrien endgültig in die Katastrophe zu führen. Eigentlich sollte Hafiz' ältester Sohn Basil einmal die Nachfolge des herzkranken Vaters antreten. Als er 1994 bei einem Autounfall starb, fiel die Wahl auf Baschar, der als Augenarzt in London praktizierte. Gezielt wurde er nun als "Dr. Saubermann" und Reformer aufgebaut, führte das Internet und Mobilfunk ein. Nach dem Tod seines Vaters im Jahr 2000 übernahm der 34-Jährige die Macht. Seine mondän wirkende Frau Asma, eine in Großbritannien aufgewachsene Finanzanalystin, sollte dem Regime einen Hauch von Glamour und Weltoffenheit verleihen.Selten haben sich die Experten in einem Amtsnachfolger mehr getäuscht. Nach der kurzen liberaleren Phase des "Damaszener Frühlings" zog Baschar die Zügel wieder genauso fest an wie sein Vater. Die verkrusteten Strukturen des korrupten Polizeistaates wollte er nicht aufbrechen, auch die Ausplünderung der syrischen Wirtschaft durch den Clan und die Günstlinge des Regimes ging weiter. 2011 erhielt er dafür die Rechnung - einen schier endlosen Bürgerkrieg. Baschar al-Assad führte ihn mit maximaler Grausamkeit gegen das eigene Volk und ließ zu, dass die russische Luftwaffe Städte wie Aleppo verwüstete.
In Interviews machte der Kriegsverbrecher dafür pauschal "Terroristen" verantwortlich, die aus dem Westen, den Golfstaaten, der Türkei gesteuert seien. Auch wenn er damit nicht ganz falsch lag und die Brutalität islamischer Milizen wie ISIS großen Anteil an dem Horror hatte: Die Mehrheit des Volkes stand wohl schon lange nicht mehr hinter Assad. Der "Arabische Frühling" hat das Regime mit 13-jähriger Verspätung doch noch eingeholt - auf Pickups voll jubelnder Syrer. Wie in anderen arabischen Staaten spricht auch in Syrien derzeit nicht viel dafür, dass der Sturz einer Diktatur automatisch die nächste verhindert.