Der Sturz Assads im Dezember 2024 weckte zunächst eine Welle der Hoffnung. Familien stürmten die geöffneten Gefängnisse, durchsuchten leere Zellen nach Graffiti oder persönlichen Gegenständen ihrer Angehörigen, wie Thaer al-Najjar, der nach Bildern seines malenden Bruders suchte. Doch die Euphorie wich schnell einer niederschmetternden Erkenntnis. Die allermeisten der seit 2011 Verschwundenen tauchten nicht auf. „Wer seit Dezember 2024 nicht wieder aufgetaucht ist, ist höchstwahrscheinlich tot“, lautet die düstere, aber realistische Einschätzung vieler. Das „Damascus Dossier“ gibt dieser Erkenntnis nun ein Gesicht und eine Aktennummer. Es verwandelt statistische Größen in individuelle Tragödien und ersetzt das quälende „Vielleicht“ durch ein endgültiges, wenn auch schmerzhaftes „Gewiss“. Für Nizar al-Tahan war selbst in der schrecklichen Gewissheit noch ein kleiner Trost: Sein Vater litt „nur“ drei Wochen. „Es tröstet mich zu wissen, dass er nicht lange gelitten hat.“ Die Arbeit des „Damascus Dossier“-Teams ist damit noch lange nicht abgeschlossen. Jedes identifizierte Schicksal wirft neue Fragen auf und öffnet neue Wunden. Doch sie leistet etwas Entscheidendes: Sie entreißt die Toten der anonymen Bürokratie des Terrors und gibt ihnen – und ihren Familien – einen Teil ihrer Würde zurück. Sie schafft eine Grundlage für Trauer und, möglicherweise, für zukünftige juristische Aufarbeitung. In einer Zeit, in der Syrien nach Jahren des Grauens einen ungewissen Neuanfang sucht, ist diese schonungslose Aufklärung der Vergangenheit der einzige Weg, auf dem eine Zukunft aufgebaut werden kann.
Quellen: Eigene Auswertung der Dokumente des „Damascus Dossier“-Projekts. Rechercheteam: Hannah El-Hitami, Lena Kampf, Amir Musawy, Sulaiman Tadmory (Süddeutsche Zeitung/NDR/WDR). Mitarbeit: Nicole Sadek, David Kenner. Commission for International Justice and Accountability (CIJA). Interviews mit Thaer al-Najjar (Damaszkus) und Nizar al-Tahan (Bad Homburg), geführt vom Damascus Dossier-Team.