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Leserbriefe

Mittwoch, 12.10.2005



Tobias Wobisch schrieb:
Was hat die Kopftuchdebatte mit dem Überlegenheitsgestus, der Rechtsbeugung, dem fehlenden EU-Tabakwerbeverbot und Pornographie zu tun? Mehr als uns lieb ist

Eine muslimische Lehrerin mit Kopftuch, die neben vielen anderen verschiedenen Kollegen ihren Dienst tut, die alle auf ihre Weise ihre Wertvorstellungen transportieren, ausgerechnet diese Frau soll Kinder und Jugendliche negativ in ihrer Entwicklung beeinflussen?

Die „Kopftuch-Debatte“ ist eine manipulierte Debatte, die nicht das bezweckt, was sie vorgibt. In einer Zeit, in der Deutschland sich sträubt, ein EU-Tabakwerbeverbot umzusetzen, was Kinder und Jugendliche schützen würde, in einer Zeit, in der bereits einige Monate nach dem Amoklauf von Erfurt keine Rede mehr war von der Eindämmung einer immer mehr zunehmenden Gewaltverherrlichung, in einer Zeit, in der, dank Privatfernsehen, Pornographie ausgestrahlt werden kann („0190er“ Werbespots), in einer Zeit in der Marketingstrategen bei Werbeagenturen darüber nachdenken, wie man Jugendliche frühzeitig an Alkohol heranführen kann, in einer Zeit, in der Hunde auf öffentlichen Flächen und bei der Wohnungsvergabe den Vorrang vor Kindern genießen, in einer Zeit, in der es an allen Ecken und Enden an Leitbildern und Wertvorstellungen mangelt, da gibt es tatsächlich Politiker, die auf die Idee kommen, dass ein Tuch auf dem Kopf einer Lehrerin unbefangene Kinder in ihrer Entwicklung negativ beeinflussen könne.

Es sollte in Deutschland ein legitimes, individuelles Recht sein, zu entscheiden, auf welcher weltanschaulichen Grundlage auch immer, welche Bekleidung man als korrekt erachtet.
Menschen, die sich am Knigge orientieren, sind in ihrer Entscheidung genauso frei, wie Menschen, die ihren Begriff von Anstand aus ihrer Religion ableiten. Anderen eine bestimmte Kleidung aufzwingen zu wollen, ist genauso schwerwiegend, wie die Kleidung anderer, und sei es auch nur im schulischen Rahmen, verbieten zu wollen.
Aber was hinter der Debatte steckt, weshalb ich sie als manipuliert bezeichne, ist ja etwas ganz anderes:
Das Fehlen bzw. der Abbau von Werten in dieser Gesellschaft wird immer offenbarer.
Da ist man nicht bereit, ausgerechnet Migranten, d.h. in diesem Fall Muslimen, eigene Wertvorstellungen zu konzedieren, auch wenn diese das deutsche Recht überhaupt nicht tangieren. Dies ist die Essenz, die m.E. hinter dieser Debatte steckt.

Das Engagement mancher Politiker in dieser Angelegenheit wäre hinsichtlich zahlreicher anderer Themen wesentlich dringender vonnöten. Deswegen behaupte ich, wie gesagt, dass es sich um eine manipulierte Debatte handelt, die das Kindeswohl vorschiebt, tatsächlich aber die Aussage an Muslime verklausuliert: "Ihr braucht uns nicht zu erzählen, was Anstand ist." Angesichts dessen, womit Kinder in ihrem Alltag konfrontiert werden, ist es absurd zu glauben, dass eine "Kopftuch-Lehrerin" einen negativen Einfluss haben könnte, noch absurder, dass die Politik gerade dieses Thema so plakativ aufgreift.

Ein Kopftuch ist ein Kleidungsstück, das kulturhistorisch in verschiedenen Kreisen getragen wurde, aktuell sicher überwiegend von muslimischen Frauen, die davon ausgehen, dass der Islam es ihnen empfiehlt bzw. vorschreibt. Selbstverständlich legen sie in Deutschland bei ihrer Entscheidung subjektive Maßstäbe an, was völlig legitim ist. Sofern ihre Entscheidung erzwungen wird, gilt es gegen diesen Zwang vorzugehen, nicht aber einen weiteren hinzuzufügen.

Kopftücher sind keine religiösen Symbole oder werden etwa bei Karstadt islamische Devotionalien angeboten?

Beim bärtigen Mann zeigt sich die Absurdität, beurteilen zu wollen, ob der Habitus eines Gläubigen zugleich ein religiöses Symbol sei, wenn er auch bei Nicht- oder Andersgläubigen anzutreffen ist: Juden und Muslime tragen zum Teil aus religiösen Bart, jedoch sind Bärte kein religiöses Symbol. Ein Bart könnte nicht jüdischen und muslimischen Lehrern verboten werden und anderen nicht.
Gerade dies wird aber analog bei Frauen gerade exerziert.
Das Problem hinter der Frage, ob ein Kopftuch ein islamisches Symbol ist, die vorgeschoben wird, ist ein anderes: Darf eine Frau äußerlich als Muslima zu erkennen sein? Diese Frage trifft natürlich ins Mark einer Gesellschaft, die offiziell gerne betont, auf christlich-jüdischen Werten zu basieren, deren Erscheinungsbild jedoch offenbart, dass Religion praktisch keine Rolle mehr spielt. Dort bilden sich dann Koalitionen von Alice Schwarzer bis hin zu Günter Beckstein und jetzt auch Jürgen Rüttgers, von Atheisten zu Katholiken, die sich, wenngleich aus unterschiedlichen Motiven, einig in ihrem diffusen Empfinden sind, dass dem Islam Einhalt geboten werden muss. Die einen sind von jeher gegen jede Religion eingestellt gewesen, andere empfinden das Erstarken einer anderen Religion als Bedrohung der ihrigen, gerade wenn diese andere Religion für ihre Anhänger so attraktiv zu sein scheint, dass sie sie sogar praktizieren.

Gemeinsam reden sie dann allerdings von den Rechten der Frau, ungeachtet dessen, dass weder Feministinnen noch Christen, die Entwürdigung des Menschen in der zunehmenden Pornografisierung dieser Gesellschaft aufhalten konnten. Dass gerade der Islam, bzw. Muslime, die größtenteils (noch) ein unterdurchschnittliches Bildungsniveau in Deutschland haben, in diesem Zusammenhang eigene Akzente setzen, löst bei den o.g. eine unglaubliche, schier paranoide Missgunst hervor.

Einige wenige zollen dem Islam und seinen Anhängern Respekt für das Festhalten an der, auch aus philosophischer Sicht, einzig schlüssigen Sichtweise, dass Göttlicher Wille keiner zeitlichen Dimension unterliegen kann, die Religion sich überflüssig macht, wenn sie Modernität anstrebt, einem Zeitgeist entsprechen möchte, der überwiegend durch Areligiosität gekennzeichnet ist.
Da die christliche Theologie allein schon aufgrund ihrer Lehrmeinung gegenüber der Schöpfung immer wieder gezwungen war, sich zu revidieren, ist es für Christen heute schwieriger zu verstehen, dass Muslime ihre Werte als zeitlos erachten, was man ihnen aber nicht zugestehen kann, ohne diesbezüglich nicht auch eine theologische Überlegenheit einzuräumen.

In der Vergangenheit konnte man noch ganz gut mit dem Mitleid leben, dass man für Kopftuch tragende Putzfrauen übrig hatte (ohne sie je davon befreien zu wollen), erst jetzt, in der Generation muslimischer Akademikerinnen, die wahrlich souverän genug sind, sich von keinem Mann bevormunden zu lassen, fühlen sich Politiker in ihrer Parteinahme für unterdrückte Frauen auf den Plan gerufen.
Mitnichten geht es ihnen dabei weder um arglose Kinder noch um Frauen, sondern allein um den Überlegenheitsgestus.

Deutlich wird dies in NRW nunmehr u.a. ja auch daran, dass ein Gesetz in einer Situation gemacht werden soll, in der so gut wie keine „Kopftuch-Problemfälle“ bekannt wären.

Dabei wird nicht einmal vor der Rechtsbeugung zugunsten christlicher und jüdischer Symbole zurückgeschreckt. Spricht man beim Kopftuch von der „passiven Religionsfreiheit“ der Kinder und der „Neutralität des Staates“, so soll dies für das Kreuz, welches eindeutig ein Symbol ist, nicht gelten.
Im Fernsehen sehe ich regelmäßig im Gerichtssaal des Bundesverfassungsgerichts ein Kreuz. Ich nehme dies in keiner Weise negativ zur Kenntnis, dennoch frage ich mich, wie es möglich ist, dass in diesem Land so eindeutig mit zweierlei Maß gemessen werden kann.