Leserbriefe Dienstag, 11.07.2006 |  Drucken

Leserbriefe



Ibrahim Rüschoff schrieb:
Kommentar zum Schwarzer-Interview - erschienen in der FAZ vom 4.7.2006


„Die Islamisten meinen es so ernst wie Hitler“ -
Als Mann kann mir Frau Schwarzer herzlich egal sein, wie steht es aber mit den hunderten oder gar tausenden muslimischen Frauen, die sich in voller Freiheit und religiöser Überzeugung für das Kopftuch entscheiden? Wer sie kennt, der weiß, wie viel Charme, Herzlichkeit, Intelligenz und Engagement unserer Gesellschaft verloren gehen, weil diese Frauen nicht nur von Arbeitgebern diskriminiert werden, sondern auch noch von denen, die vorgeben, in ihrem besonderen Interesse zu handeln. Was ist das für eine Hilfe, die immer schon weiß, was für mich gut ist, wie ich mich fühle, die mich erst dann annimmt, wenn ich so bin, wie der Helfende mich will? Die zur Voraussetzung macht, dass ich mich als Muslim von all dem lossage, was irgendwelche selbsternannten Experten für überflüssig halten, die, wie jedes Kind sehen kann, meine Religion nicht einmal kennen und alles durcheinander bringen?
Als muslimischer Psychotherapeut, der seit Jahren immer wieder von Betroffenen angesprochen wird und der seine PatientInnen und Ratsuchenden und ihre Motive wahrscheinlich besser kennt als Frau Schwarzer, kann ich nur fassungslos konstatieren, was sie mit ihrer undifferenzierten Haltung, massiven Ablehnung und jetzt solchen Vergleichen wie dem Judenstern in den Seelen vieler, vor allem junger Mädchen anrichtet. Wenn für Frau Schwarzer das Kopftuch ein Zeichen ist, „das die Frauen zu den anderen, zu Menschen zweiter Klasse macht“ und als Symbol eine Art Brandzeichen, „vergleichbar mit dem Judenstern“, darstellt, dann sagt das nichts über die vielfältigen Motive von Frauen, das Kopftuch zu tragen, aber sehr viel über Frau Schwarzer und deren diskriminierende Wahrnehmung. Den Judenstern heftet sie den Frauen an, denn der vermeintlichen Symbolcharakter entstammt ihrer Wahrnehmung. Sie macht viele Frauen zu Menschen zweiter Klasse, nämlich alle diejenigen, die ihre islamische Kleidung freiwillig und aus voller Überzeugung tragen.
Diese Mädchen und Frauen folgen einem persönlichen religiösen Ideal gegen mannigfache gesellschaftliche Diskriminierung oft unter großen persönlichen Opfern. Viele werden dadurch stark und selbstbewusst, viele aber auch krank und zerbrechen daran. Wir kennen sie aus unseren Therapien. Niemand fragt wie es ihnen wirklich geht, niemand lässt sie in Ruhe, niemand lässt sie ihre eigenen Entscheidungen treffen, die einen ihre Väter, Brüder und Mütter nicht, die anderen die Schwarzers, Keleks und Ateş’ nicht. Die einen sind nicht besser als die anderen, auch wenn sie glauben, im Interesse ihrer Klientel zu handeln.
Als Psychotherapeut muss ich B. Rommelspacher zustimmen, die sehr überzeugend dargelegt hat, wie die Gesellschaft und damit auch der Teil, der sich voll und ganz der Frauenemanzipation verschrieben hat, den eigenen, nicht verwirklichten Teil ihrer Emanzipation auf die unterdrückten Musliminnen projiziert und sie dort stellvertretend bekämpft. Allzu verräterisch und nahezu psychologisch beweisend dafür ist die starre und undifferenzierte Wahrnehmungsverzerrung der Realität gleich einem Neurotiker, der dadurch Angst vermeidet.
So ist denn auch das große Problem von Fr. Schwarzer ihre mangelnde Differenzierung. Man kann kaum glauben, dass intelligente Menschen zu solchen Verleugnungen fähig sind, wüsste man es aus seiner therapeutischen Erfahrung nicht besser. Vielleicht sollte Frau Schwarzer einmal zu einem MJ-Meeting gehen und erleben, wie muslimische Frauen sein können, die ein Kopftuch tragen.
Mich als Mann hat ihr Standpunkt nie sonderlich beeindruckt, er könnte mir, wie gesagt, egal sein. Er ist es mir aber vor allem deshalb nicht mehr, weil ich als Arzt und Psychotherapeut nicht länger bereit bin, die Wirkung kommentarlos hinzunehmen, die solch ein Gerede und solche Vergleiche nicht nur in der Mehrheitsgesellschaft zeitigen, sondern vor allem bei den Betroffenen selbst, mit denen wir in unserer Arbeit Tag für Tag konfrontiert werden.
Und daran, wie sich ein Jude, der den Judenstern einst selbst tragen musste, bei ihrem Vergleich fühlt, mag ich gar nicht erst denken.


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