Leserbriefe Freitag, 14.11.2003 |  Drucken

Leserbriefe



MustafaYeneroglu: BVerfG - Urteil schwächt Religionsfreiheit schrieb:



Kritische Analyse der Kopftuch-Entscheidung des BVerfG - Urteil
schwächt Religionsfreiheit

Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts [1] zu der Frage, ob eine muslimische Lehrerin mit Kopftuch in einer staatlichen Schule unterrichten darf, hat entgegen der Erwartung, sie würde zur endgültigen Klärung der Rechtslage führen, vielmehr Verwirrung ausgelöst. Das Gericht hat der Klage von Fereshta Ludin stattgegeben und die Sache an das Bundesverwaltungsgericht zurückverwiesen. Begründet wurde die Entscheidung damit, das Verbot für Lehrkräfte, in Schule und Unterricht ein Kopftuch zu tragen,greife in das Recht auf gleichen Zugang zu jedem öffentlichen Amt aus Art. 33 Abs. 2 GG in Verbindung mit dem durch Art. 4 Abs. 1 und 2 GG gewährleisteten Grundrecht der Glaubensfreiheit ein, ohne dass dafür die erforderliche, hinreichend bestimmte gesetzliche Grundlage bestehe. Damit sei der Beschwerdeführerin der Zugang zu einem öffentlichen Amt in verfassungsrechtlich nicht tragfähiger Weise verwehrt worden.

Völlig überraschend nahm das Gericht die Länder in die Pflicht, in dem es durch Betonung der Gestaltungsfreiheit der Länder im Schulwesen ihnen übertrug, die Problematik einer ausgewogenen Lösung zuzuführen [2]. Dabei könnten die Landesgesetzgeber auch zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen, eingeschlossen das zukünftige Verbot des Tragens eines Kopftuchs während des Unterrichts [3].

Im Folgenden soll anhand der Urteilsgründe die dogmatische Schwäche der Entscheidung dargelegt werden. Das BVerfG sieht die Rechtsfrage zutreffend in einem unvermeidlichen Spannungsverhältnis zwischen mehreren verfassungsrechtlichen Positionen eingebettet [4]: Die positive Glaubensfreiheit der Lehrerin und ihr Zugangsrecht zu öffentlichem Lehramt unabhängig von ihrem religiösen Bekenntnis (Art. 4 Abs. 1, 33 Abs. 2 und Abs. 3 S. 1 GG), den Bildungs- und Erziehungsauftrag der staatlichen Schule ( Art. 7 Abs. 1 GG) in Verbindung mit der staatlichen Pflicht zu religiösweltanschaulicher Neutralität, die negative Glaubensfreiheit der Schüler bzw. deren Eltern (Art. 4 Abs. 1 GG) sowie schließlich das elterliche Erziehungsrecht (Art. 6 Abs. 2 GG). Nach Art. 33 Abs. 2 und Abs. 3 GG sind Auswahl und Ernennung von Beamtenbewerbern nach Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung vorzunehmen. Danach ist die Zulassung zu öffentlichen Ämtern unabhängig von dem religiösen Bekenntnis (Art. 33 Abs. 3 S. 1); niemandem darf aus der Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zu einem Bekenntnis oder zu einer Weltanschauung ein Nachteil erwachsen (S. 2). In dem Verbot, mit einem Kopftuch zu unterrichten, sieht das Gericht einen Eingriff in die Religionsfreiheit der Lehrerin aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG und folgert, dass Art. 33 Abs. 3 GG verbiete, die Zulassung zu öffentlichen Ämtern aus Gründen zu verwehren, die mit der in Art. 4 Abs. 1 und 2 GG geschützten Glaubensfreiheit unvereinbar sind [5].

Das Gericht betrachtet die Ablehnung der Einstellung einer Lehrerin mit Kopftuch nur dann als gerechtfertigt an, wenn der beabsichtigten Ausübung der Glaubensfreiheit Rechtsgüter von Verfassungsrang entgegenstünden und sich diese Begrenzung der freien Religionsausübung auf eine hinreichend bestimmte gesetzliche Grundlage stützen könnte. Als solche kämen hier neben dem staatlichen Erziehungsauftrag (Art. 7 Abs. 1 GG), der unter Wahrung der Pflicht zu weltanschaulich-religiöser Neutralität zu erfüllen ist, das elterliche Erziehungsrecht (Art. 6 Abs. 2 GG) und die negative Glaubensfreiheit der Schulkinder (Art. 4 Abs. 1 GG) in Betracht [6]. Zwar werden die
genannten Verfassungsgüter aufgezeigt, anstelle diese aber im Einzelnen abschließend darauf zu überprüfen, ob sie ein Kopftuchverbot rechtfertigen könnten, begnügt sich das Gericht mit einer tendenziellen Verneinung [7] und folgender abschließender Feststellung: „Für die Ablehnung der Beschwerdeführerin wegen mangelnder Eignung infolge ihrer Weigerung, das Kopftuch in Schule und Unterricht abzulegen, fehlt es jedenfalls an einer hinreichend bestimmten gesetzlichen Grundlage“ [8]. Schließlich weist das BVerfG auf die Gestaltungsfreiheit der Länder im Schulwesen hin. Dem demokratischen Landesgesetzgeber obliege es, im öffentlichen Willensbildungsprozess einen für alle zumutbaren Kompromiss zu suchen [9].

Der Landesgesetzgeber müsse sich bei seiner Regelung daran orientieren, „dass einerseits im Bereich des Schulwesens Art. 7 GG weltanschaulich-religiöse Einflüsse unter Wahrung des Erziehungsrechts der Eltern zulässt und dass andererseits Art. 4 GG gebietet, bei der Entscheidung für eine bestimmte Schulform weltanschaulichreligiöse Zwänge so weit wie irgend möglich auszuschalten. Die Vorschriften sind zusammen zu sehen, ihre Interpretation und ihr Wirkungsbereich sind aufeinander abzustimmen. Dies schließt ein, dass die einzelnen Länder zu verschiedenen Regelungen kommen können, weil bei dem zu findenden Mittelweg auch Schultraditionen, die konfessionelle Zusammensetzung der Bevölkerung und ihre mehr oder weniger starke religiöse Verwurzelung berücksichtigt werden dürfen“ [10].

Im Ergebnis ist die Entscheidung äußerst unverständlich und dogmatisch unhaltbar. Zunächst hätte der Senat anstelle der tendenziellen Verneinung der Rechtfertigungsgründe für ein Verbot, diese zu einem abschließenden Ergebnis führen müssen. Weder das auch in diesem Urteil bestätigte Verständnis des Neutralitätsgebots, eine offene und übergreifende Neutralität, welches auf Freiheit und Nicht-Identifikation (bzw. Nicht-Diskriminierung) beruht, noch die negative Religionsfreiheit der Schüler, die nur bei Missionierungsversuchen bzw. Indoktrination zu einem Lehrverbot im Einzelfall führen dürfte, oder das Recht der Eltern auf Erziehung, welches im schulischen Bereich durch den staatlichen Erziehungsauftrag beschränkt ist, könnten – auch mit gesetzlicher Grundlage - ein Kopftuchverbot rechtfertigen. Gerade die sehr scharf formulierte abweichende Meinung der Richter Jentsch, Di Fabio und Mellinghoff [11], die einen stark kulturalistischen und von Vorurteilen geprägten Ansatz zeigen, lassen vermuten, dass auch sonst der Mehrheitsfindung im Gericht die dogmatische Schlüssigkeit geopfert wurde.

Die größte Überraschung des Urteils stellt unbestritten die aufgezeigte Möglichkeit für den Landesgesetzgeber dar, das zulässige Ausmaß religiöser Bezüge in der Schule durch Gesetz zu regeln [12]. Dass der erweiterte Parlamentsvorbehalt, welches auf die Wesentlichkeitstheorie [13] zurückgeht, wonach Rechtsstaatsprinzip und Demokratiegebot den Gesetzgeber verpflichten, die für die Grundrechtsverwirklichung maßgeblichen Regelungen selbst zu treffen, im vorliegenden Fall grundrechtsdogmatisch eine annehmbare Lösung bieten soll, darf stark bezweifelt werden. Zunächst sei wiederholt, dass das Grundrecht der Religionsfreiheit (Art. 4 Abs. 1, 2 GG) zu den vorbehaltlosen Grundrechten gehört. Einschränkungen müssen sich daher aus der Verfassung selbst ergeben [14]. Der Gesetzgeber darf nach der bisherigen Annahme bei vorbehaltlosen Grundrechten nur verdeutlichend nachziehen und nicht originär begründen [15]. Jedes Gesetz, dass das Tragen eines Kopftuchs verbieten würde, wäre ein Eingriff in die Religionsfreiheit des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG, ohne das ein Gesetzesvorbehalt dies rechtfertigen könnte. Dass der Senat unter diesen Umständen noch betont, dass die Länder zu verschiedenen Regelungen kommen können „weil bei dem zu findenden Mittelweg auch Schultraditionen, die konfessionelle Zusammensetzung der
Bevölkerung und ihre mehr oder weniger starke religiöse Verwurzelung berücksichtigt werden dürfen“ [16], ist nicht nachvollziehbar. Was die Bemerkung, der Landesgesetzgeber habe „einen für alle zumutbaren Kompromiss zu suchen [17]“, bei einer Entweder-oder-Frage bedeuten soll, lässt sich schwer klären. Die Betonung, dass „das Gebot strikter Gleichbehandlung der verschiedenen Glaubensrichtungen sowohl in der Begründung als auch in der Praxis der Durchsetzung solcher Dienstpflichten zu beachten“ sei und die Feststellung, dass das Kopftuch im Lehramt, „nur begründet und durchgesetzt werden kann, wenn Angehörige unterschiedlicher Religionsgemeinschaften dabei gleich behandelt werden“; macht deutlich, dass die Einführung eines „Lex-Kopftuch“ das Konzept der „offenen und übergreifenden Neutralität“ hin zu einem laizistisch geprägten Verständnis in Bedrängnis bringen wird.
Mustafa Yeneroglu
November 2003
[1] BVerfG, 2 BvR 1436/02 vom 24.09.2003 in NJW 2003, 3111, 3122
[2] BVerfG, NJW 2003, 3111, 3113
[3] BVerfG, NJW 2003, 3111, 3114
[4] BVerfG, NJW 2003, 3111, 3122
[5] BVerfG, NJW 2003, 3111, 3112
[6] BVerfG, NJW 2003, 3111, 3112
[7] BVerfG, NJW 2003, 3111, 3113
[8] BVerfG, NJW 2003, 3111, 3115
[9] BVerfG, NJW 2003, 3111, 3113
[10] BVerfG, NJW 2003, 3111, 3113 ff.
[11] BVerfG, NJW 2003, 3111, 3117 ff.


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